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Über die Forschungsgruppe

Recht – Geschlecht – Kollektivität

Der Ausgangspunkt der DFG-Forschungsgruppe „Recht – Geschlecht – Kollektivität“ (FOR) sind die Auseinandersetzungen um Teilhabe und gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Gegenwart. Wir fragen danach, wie Kollektive entstehen, wie sie aufrechterhalten werden und wie in ihnen um Vorstellungen des Gemeinsamen gerungen wird. Diese Prozesse betrachten wir aus der Perspektive von Recht und Geschlecht. Kurz gesagt leitet diese Frage unsere Forschungen an: Wie stellen sich aktuelle gesellschaftliche Konflikte dar, wenn wir sie aus der Sicht juristisch normierter und zugleich vergeschlechtlichter Kollektivierungsprozesse betrachten?

Globalisierung und Migration, plurale Lebensentwürfe und hybride Identitätsformationen, postfordistisch organisierte Beschäftigungsverhältnisse sowie die nachlassende Steuerungskraft moderner Regulierungsweisen – und nicht zuletzt: des (staatlichen, offiziellen, formalen) Rechts – sorgen für vielfältige Konfliktlagen in spätmodernen Gesellschaften. Es ist zunehmend umstritten, was als ,das‘ Allgemeine, als Allgemeinwohl gelten kann und welches ,Wir‘ darüber entscheidet. Solche Konflikte um Zugehörigkeit und Teilhabe haben immer auch mit Geschlechterverhältnissen, Geschlechterordnungen und vergeschlechtlichten Subjektivitäten zu tun. Ausgehend von der Überlegung, dass sich Kollektivität im Spannungsfeld konflikthafter Prozesse der Ein- und Ausgrenzung ereignet, fragt die FOR nach den Mechanismen und Effekten von Geschlecht als Modus intersektionaler Vergesellschaftung sowie nach den Weisen, in denen Recht Möglichkeiten der Veränderung von Geschlechterverhältnissen begrenzt oder öffnet, zur Lösung von Konflikten beiträgt oder sie versperrt. In den Fokus geraten dabei neue Formen von Solidarität und Gemeinsamem, die angesichts eines verloren gegangenen und problematisch gewordenen Allgemeinen mit neuen Räumen des Geteilten experimentieren. Damit leistet die FOR Beiträge zur interdisziplinären Geschlechterforschung sowie zur interdisziplinären empirischen Rechtsforschung. Recht verstehen wir nicht nur als Korpus von Normen, sondern auch als Rechtspraxis unterschiedlicher Akteur*innen. Daher sind alltagsweltliche Vorstellungen und Nutzungsweisen sowie Aushandlungs- und Übersetzungspraktiken von Recht für uns von besonderem Interesse.

Im Zentrum der gemeinsamen Arbeit stehen die Austauschprozesse, Wechselwirkungen, Widersprüche und Ambiguitäten, die dort entstehen, wo alltagsweltliche, institutionelle und rechtliche Praktiken aufeinandertreffen. Gefragt wird nach den konstituierenden und regulierenden Funktionen, die den spezifischen Modi, Praktiken und Mobilisierungsformen des Rechts zukommen, und danach, in welcher Weise Geschlechternormen und -verhältnisse in verschiedene Dimensionen der Kollektivität hineinwirken. In sechs Teilprojekten werden Kollektive selbst, Vorstellungen von Kollektivität und Prozesse der Kollektivierung in ihrer gesellschaftspolitischen Bedeutung analysiert und unterschiedliche Dynamiken von Recht, Geschlecht und Kollektivität sichtbar gemacht.

Die interdisziplinäre Forschungsgruppe, in der Vertreter*innen der Rechtswissenschaft, der Soziologie, der Europäischen Ethnologie und der Geschichtswissenschaft kooperieren, geht auf die Initiative von Susanne Baer zurück: Im Dezember 2012 als Caroline von Humboldt-Professur ausgezeichnet, wollte sie das Preisgeld dazu nutzen, „das enorme Potenzial der Gender-Forschung sichtbarer werden zu lassen und einen Impuls für längerfristige Entwicklungen [zu] setzen“. Ihrer Einladung folgten Wissenschaftler*innen von der Humboldt-Universität, der Technischen Universität, der Freien Universität, der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und der Universität Potsdam. Sie entwickelten gemeinsam ein Konzept, das die Potentiale der interdisziplinären Zusammenarbeit im Feld intersektionaler Geschlechterforschung so überzeugend sichtbar machte, dass die DFG im Juli 2017 den Zuschlag gab. Über unterschiedliche Forschungsschwerpunkte und disziplinäre Verortungen hinweg wird nun das gemeinsame Anliegen verfolgt, die Schnittstelle von Recht als soziokulturellem Diskurs- und Handlungszusammenhang und von Geschlecht als wirkmächtiger sozialer Norm und Strukturkategorie zu bearbeiten. Herausgearbeitet werden soll, wie sich Recht und Geschlecht reflexiv aufeinander beziehen: Wie wirken sich rechtliche Rahmungen und Diskurse auf Geschlechterverhältnisse, wie wiederum Geschlecht auf Recht aus und wie werden beide durch diese wechselseitige Bezogenheit verändert?

In der ersten Förderphase (2018-2021) widmeten sich die einzelnen Teilprojekte etwa Betriebsräten, Gewerkschaften und prekarisierten abhängigen Selbstständigen (und damit neuen Formen des kollektiven Handelns in der Erwerbsarbeit), geschlechterpolitischen Interessenskollektiven in monogeschlechtlich dominierten Berufsfeldern (wie in Arbeitsgruppen von Soldatinnen, die nicht zufällig regelmäßig als ,weibliche Soldaten‘ firmieren), neuartigen Nutzer*innen-Gemeinschaften (die als Commons-Initiativen auch rechtliche Grundnormen herausfordern) und queeren, migrantischen sowie um die Kategorie ,Behinderung‘ versammelten Communitys (in ihrer Auseinandersetzung mit Recht gegen Diskriminierung).

In der zweiten Förderphase (2021-2024) stehen in den Teilprojekten die Rolle von Geschlecht in Umweltrecht und Umweltklagen, transnationale Arbeitskonflikte, Prozesse der Entstehung und der langfristigen Aufrechterhaltung von Urban & Housing Commons, die Organisation des Verbraucher*innenschutzes, gemeinwohlorientierte Prozesse der Infrastrukturierung im Kontext von Verkehrsplanung und Geburtshilfe sowie die Mobilisierung von Menschenrechten durch LGBTIQ*-Bewegungen seit den 1970er Jahren im Zentrum.

Entlang dieser Beispiele und unter Einbeziehung unterschiedlicher rechtsbezogener Kollektivierungsprozesse (u.a. im Rahmen von Antidiskriminierungs-, Arbeits- und Sozialrecht) wird untersucht, welche konstituierenden und regulierenden Funktionen die spezifischen Modi, Wissensformen, Praktiken und Mobilisierungen des Rechts aufweisen und in welcher Weise in diesem Kontext Gender als Norm, als interdependente Strukturkategorie und als gesellschaftliches Verhältnis wirksam wird. Mit der Perspektive auf Kollektive einer mittleren Ebene lotet die Forschungsgruppe unterschiedliche Aggregatzustände und Intensitäten von Kollektivität aus – von eher losen sozialen Bewegungen über manifeste soziale Gruppen wie Hausgemeinschaften und Wohnkollektive bis hin zu Vereinen und (politischen) Organisationen, von denen wichtige Impulse in Hinblick auf neue Formen der Teilhabe und Sozialität auszugehen scheinen.

Mit ihrem Arbeitsprogramm will die Forschungsgruppe sowohl einen eigenständigen Beitrag zum Verständnis der Bedeutung von Kollektivität in spätmodernen Gesellschaften im transnationalen Zusammenhang leisten als auch einen theoretischen Mehrwert für die interdisziplinäre empirische Rechtsforschung und die Geschlechterforschung erzielen. Daher wird in der zweiten Förderphase ein eigenständiges Koordinationsprojekt die Arbeit in den Teilprojekten begleiten, indem es das verbindende Begriffsrepertoire sowie die Beiträge zur Methodik interdisziplinärer Forschung systematisiert.

Motiviert ist die Forschungsgruppe durch gegenwärtige gesellschaftspolitische Konflikte: Rechtspopulismus, massive antigenderistische Attacken sowie die Zunahme aller Formen von Aggressionen, die sich gegen ein solidarisches Zusammenleben in diversifizierten Gesellschaften richten, machen Fragen danach dringlich, wie Zusammenhalt in spätkapitalistischen Gesellschaften entsteht, wie Formen des Zusammenlebens organisiert und über individuelle Interessen hinweg gemeinsame Handlungsräume gebildet werden (können). Fokussiert werden Formen von Sozialität, die sich dort herausbilden, wo tradierte Formen des Zusammengehörens außer Kraft gesetzt scheinen. Denn ebenso, wie zu beobachten ist, dass das Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion für Konfliktstoff sorgt, werden zumindest punktuell immer wieder auch neue Praktiken und Visionen von Kollektivität sichtbar.