Förderphase 2 (2021-2024)
Das umkämpfte Allgemeine und das neue Gemeinsame
Die Ausgangsthese der FOR ist nach wie vor aktuell: Krisen- und Konfliktlagen in spätmodernen Gesellschaften sorgen für immer dringlichere gesellschaftliche und politische Debatten über Selbstverständnis und Regeln des Zusammenlebens sowie darüber, wer überhaupt das ,Wir‘ ist, das solche Fragen legitim verhandeln kann. In der ersten Förderphase ist deutlich geworden, dass Vorstellungen von so unterschiedlichen Konzepten wie Gerechtigkeit, Menschenrechten und Gemeinwohl, Allgemeininteresse, Commons und Community, Solidarität oder Gemeinschaft zentrale Momente in Praktiken des Kollektiven darstellen. In der zweiten Förderphase fokussieren wir daher verstärkt diese Konzepte. Kollektive als wichtige Impulsgeber in den gesellschaftlichen Verhandlungen von Gemeinschaft, Gemeinwohl und Solidarität machen wir zum Ausgangspunkt der Forschung in der zweiten Förderphase. Alle Teilprojekte fokussieren dabei konfliktförmige Verhandlungen des Allgemeinen sowie Praktiken und Imaginationen des Gemeinsamen. Diese verstehen wir als Realexperimente, in denen neue Formen von gesellschaftlicher Solidarität und sozialem Zusammenhalt erkundet werden. Wir vermuten, dass sich hier etwas zeigt, was unsere oft als zerrissen erlebte soziale Gegenwart besonders auszeichnet: Erfahrungen des verloren gegangenen – beziehungsweise in seinem partikularen Charakter herausgestellten – Allgemeinen treffen auf Hoffnungen, ein neues, weniger abstraktes Gemeinsames zu erschaffen und neue Räume des Geteilten zu finden.
Das Allgemeine verstehen wir dabei als in mehreren Hinsichten umkämpft:
- Gesellschaftliche Akteur*innen und soziale Bewegungen versuchen, In-Besitznahmen und Zerstörungen des Allgemeinen entgegenzutreten. Angemahnt wird die gemeinsame Verfügung über das, was unser gemeinsames Leben bestimmt, oder es werden normativ verallgemeinerbare Kriterien hinsichtlich des Umgangs mit diesen Gütern eingefordert.
- Auch der Charakter des Allgemeinen selbst wird zur Disposition gestellt. In Auseinandersetzungen um Marginalisierung und Diskriminierung, aber auch in der Kritik an Andro- und Eurozentrismus wird deutlich, dass die Berufung auf eine Allgemeinheit nicht selten Interessen und Perspektiven einer spezifisch privilegierten Gruppe verdeckt. Das vorgeblich allgemeine Wohl erweist sich als partikulares Interesse.
- Dieser sich wiederholende Prozess, das Partikulare als Allgemeines auszugeben, hat stellenweise auch zu einer Diskreditierung der Berufung auf das Allgemeine insgesamt geführt. Die Kritik am nicht-allgemeinen Charakter des vorgeblich Allgemeinen wird so zu einer Kritik am Anspruch auf Allgemeinheit selbst.
Uns interessiert sowohl, wie Vorstellungen vom Allgemeinen infrage gestellt werden, als auch, wie ein ,neues‘ Gemeinsames artikuliert und legitimiert wird. Dabei gehen wir weiter davon aus, dass Kollektive der mittleren (Meso-)Ebene wichtige Impulse für veränderte Vorstellungen und für gesellschaftlichen Verhandlungen von Gemeinschaft, Gemeinwohl und Solidarität setzen.
In der zweiten Förderphase erschließen wir dafür weitere Untersuchungsfelder: Klimaklagen (TP A); transnationale Wertschöpfungsketten und Arbeitsmigration (TP B); Praktiken und Konflikte des Commoning in Urban und Housing Commons (TP C); Verbraucher*innenschutz (TP D); gemeinwohlorientierte Prozesse der Infrastrukturierung im Kontext von Verkehrsplanung und Geburtshilfe (TP E); Initiativen der Lesben- und Schwulenbewegung zu Menschenrechten und Menschenrechtsbildung (TP F). Wir fragen erstens auch auf diesen Feldern danach, wie Geschlecht, Recht und Kollektivität die jeweils beobachtbaren Dynamiken, Praktiken und Prozesse gestalten und wie diese wiederum zu veränderten Figurationen von Geschlecht, Recht und Kollektivität beitragen. Wir untersuchen zweitens nun intensiver, welche Antworten in diesen Kollektiven auf die Fragen des Allgemeinen und des Gemeinsamen gegeben werden, Topos der Krise der Rechtsstaatlichkeit in Polen (TP 0).
Ziel der FOR ist es, mit dem Wissen um die Ergebnisse der ersten Phase die Ordnungsdimensionen und -praktiken der Kämpfe um das Allgemeine bzw. der Versuche seiner Refiguration sowie Konzeptionierungen eines neuen Gemeinsamen empirisch zu beschreiben. Dazu wird eigene theoretische Begriffsarbeit einen Beitrag zur allgemeineren Debatte um die Methoden der interdisziplinären Rechtsforschung liefern können. Das Koordinationsprojekt (TP 0) systematisiert das verbindende Begriffsrepertoire sowie die Beiträge zur Methodik interdisziplinärer Forschung.